Ein verregnetes Gedicht (ABC-Etüde)

Regen fiel vom Himmel und die ganze Stadt war von Wasser getränkt. Elsa, welche gerade auf den nassen Gassen von London unterwegs war, flüchtete sich ins Trockene und an die Wärme. Sie fand in einem Café Zuflucht. Dort hielten sich viele Leute auf, die sich nach vorn zu einem jungen Mann gedreht hatten. Dieser Mann hielt ein kleines, altes Büchlein in der Hand und las Gedichte vor. Somit war Elsa in einer Dichterlesung gelandet. Sie liebte Gedichte und alte Literatur.

Der junge Mann entdeckte Elsa, die vollkommen durchnässt in dem kleinen, alten Café stand. Er musste schmunzeln. Nach der Lesung schlenderte er zu ihr hinüber: „Und? Wie fanden Sie meine Lesung? War sie genügsam für eine so hübsche Dame wie Sie?“ Elsa wusste, dass es nicht böse gemeint war, sondern dass er versuchte, mit ihr eine Konversation zu führen. „Sehr wohl, mein Herr“ begann Elsa wie in einem Shakespearebuch zu sprechen. „Dies gefiel mir sehr, wie Sie die Wörter aneinander reihten.“ Beide mussten lachen. „Da bin ich äusserst erfreut“ und mit dieser Geste setzte er sich auf den Stuhl, welcher neben Elsa stand.

„Mögen Sie Gedichte oder haben Sie das Schild, dass draussen stand gar nicht gesehen und sind einfach wegen des Regens in das Café gerannt?“, wollte der Dichter, der sich mit dem Namen John vorstellte, wissen. Elsa wurde rot, denn sie hatte das Schild, auf dem gross Dichterlesung stand, wirklich gesehen. Da sie aber nicht unhöflich klingen wollte, sagte sie, dass sie es tatsächlich nicht gesehen habe, aber sie Gedichte wirklich sehr möge.

Elsa mochte John wirklich, sie fand ihn sogar weise für sein Alter. Abrupt stand er auf und sagte, er müsse nochmals auf die «Bühne», wie er seinen Stuhl nannte, und auftreten. Schwungvoll lief er nach vorn und las Gedichte vor, wie sich Leute gegenseitig verkuppelten.


Die ABC-Etüden (3 Begriffe in maximal 300 Wörtern) sind ein Projekt von Christiane. Die Wortspende für März 2023 stammt von Werner Kastens und seinem Blog Mit Worten Gedanken horten. Sie lautet: Dichterlesung, genügsam, verkuppeln.

7 Antworten auf „Ein verregnetes Gedicht (ABC-Etüde)“

  1. Die Idee für den Aufbau der Geschichte finde ich sehr gut und gelungen! Bei dem Wort genügsam habe ich etwas Probleme, liegt aber vielleicht daran, dass man es in der Schweiz evtl. ein wenig anders versteht, als bei uns?

  2. Bei so einer netten Begegnung zählt das Nasssein gar nicht mehr, nicht wahr?
    Ja über die Verwendung von genügsam bin ich auch gestolpert, tut der netten Atmosphäre aber keinen Abbruch!

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