Langsam und mit leicht ausgestreckten Händen näherte sich die Gestalt immer mehr dem Mann, dessen Rücken ich gerade noch sah, da die Gestalt ihn beinahe ganz verdeckte. „Wir müssen ihn loswerden, bevor er etwas sagt“.
„Bepbepbep“ hörte ich den schrillen Wecker. Mit einer ruckartigen Bewegung wendete ich mich im Bett um. Die Augen noch halb geschlossen, schaltete ich den Wecker aus und starrte ihn an. Mein Gehirn benötigte eine Weile, um zu realisieren, dass es schon 10 nach 6 war und mein Zug in 15 Minuten fuhr. Schlagartig setzte ich mich auf. Schnell stieg ich aus dem Bett und rannte ins Bad, um mich fertig zu machen.
Vor zwei Jahren, mit 20, war ich von zu Hause ausgezogen, da ich dachte, die Liebe meines Lebens kennengelernt zu haben. Doch so war es nicht. Zwei Monate, nachdem wir zusammen gezogen waren, verschwand er plötzlich. Ich konnte ihn nicht mehr erreichen, weshalb ich heute annehme, dass er sich verdrückt hat. Seitdem hatte ich meinen Fokus vollkommen auf meine Karriere gerichtet.
Vor knapp einem Monat wurde ich allerdings entlassen, da die Firma, bei der ich zuvor arbeitete, bankrottging. Heute ist mein erster Arbeitstag in der neuen Firma, bei der ich eingestellt wurde, weshalb ich nicht zu spät kommen darf! Das Gute ist, dass ich nicht länger als 3 Min. bis zum Bahnhof brauche.
Ausser Atem stehe ich am Zuggleis und trinke Wasser aus meiner Wasserflasche. Ich warte auf meinen Zug, der jeden Moment kommen sollte, als mir einfällt, dass ich vergessen habe, meine Eisentabletten zu nehmen. Ich wühle in meiner Tasche und finde schliesslich die angefangene Packung. Mit dem restlichen Wasser, das noch in der Flasche ist, schlucke ich die gelbe Tablette runter.
„Wir müssen ihn loswerden, bevor er etwas sagt“. Was zur Hölle, wer hat gerade gesprochen? Verwundert sehe ich mich um. Auf den ersten Blick sticht mir niemand Besonderes ins Auge, doch bei genauerem Hinschauen gibt es zwei Personen, die hintereinanderstehen. Den vorderen kann ich von meinem Blickwinkel aus nicht gut erkennen, der hintere jedoch ist komplett schwarz gekleidet und schaut abwechslungsweise von seinem Handy zu dem davorstehenden Typ.
Eine Weile geht das so, bis er sein Handy wegsteckt und in Richtung Zug blickt. Von weiter weg sieht man ihn schon kommen. Im nächsten Augenblick streckt er langsam seine Arme aus und geht auf den Typ zu. „Wir müssen ihn loswerden, bevor er etwas sagt“. Schon wieder diese Stimme. Kann es sein, dass diese Stimme von ihm stammt? Der Zug kommt immer näher und der Mann nähert sich immer mehr dem anderen. Wahrscheinlich ist es nur Einbildung, doch wenn es das nicht ist, dann …
Zögernd bewege ich mich auf die beiden zu, der Zug fährt gerade ein. Der seltsame Mann schubst den Typ. Der Typ stolpert geradewegs auf das Zuggleis und der Täter rennt weg. Schnell strecke ich meinen Arm aus, in der Hoffnung, den Typ noch greifen zu können. An seinem Ärmel erwische ich ihn noch und ziehe ihn zu mir, wodurch wir beide zu Boden fallen.
Langsam setze ich mich auf und sehe mich um. Erst als ich wieder auf den Beinen stehe, nehme ich eine bekannte Person wahr, die ebenfalls schnell aufsteht. Ich traue meinen Augen nicht. Dieser Typ, der gerade fast ermordet wurde, ist niemand anderes als Kai. Geschockt sehen wir uns an, bis mir wieder einfällt, dass ich noch in den Zug muss. Die Türen des Zuges blinken schon, um zu signalisieren, dass sie sich jeden Moment schliessen.
Im letzten Moment steige ich noch ein und bemerke nur nebenbei, wie er auch einsteigt. Kai Steinbacher, so heisst mein Ex, der mich sitzen liess. Da ich nur drei Stationen fahren muss, bleibe ich direkt beim Eingang stehen. Er stellt sich dicht neben mich, weshalb ich einen grossen Schritt zur Seite mache, denn ich habe wirklich keine Lust, mit ihm ein Gespräch zu führen. Ausserdem spüre ich, wie eine Riesenwut, seinetwegen, in mir aufsteigt.
Ein paar Minuten vergehen und keiner von uns beiden macht Anstalten, was zu sagen. Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie er die Hand hebt, um auf sein Handy zu schauen. Mein Blick fällt auf die Anzeigetafel, die meine Zielstation anzeigt. Beim nächsten Halt muss ich bereits wieder aussteigen. Immer noch sagt keiner etwas, stattdessen sind wir beide auf unsere Handys fixiert, da ich meines inzwischen ebenfalls herausgenommen habe. Der Zug wird langsamer und hält an.
Ich schreite zu den Zugtüren und warte darauf, dass sie aufgehen. Nebenbei sehe ich immer noch auf den Bildschirm. Gerade als ich aus der Tür trete, leuchtet eine Benachrichtigung auf. Jemand schickte mir etwas per AirDrop. Kurz überlege ich, ob ich annehmen oder ablehnen soll. Schliesslich nehme ich es an. Ein schwarzes Bild wird angezeigt, darauf steht eine Nummer und ein Satz. „Bitte ruf mich an, ich werde dir alles erklären, es hängt auch mit dem Mordversuch zusammen! Kai.“
Verwirrt schaute ich über meine Schulter nach hinten, nur um direkt in die Augen von Kai zu blicken. Der Zug, in dem Kai stand, begann sich zu bewegen. Meine Augen folgten automatisch den Augen von Kai. „Hoffentlich rufst du an“, ertönte eine Stimme.
Ich weiss nicht, was mit mir nicht stimmt oder genauer gesagt, woher diese Stimmen kommen. Zwar habe ich eine Vermutung, doch die ist ziemlich absurd. Egal, ich habe jetzt dafür keine Zeit und auch nicht für Kai.
Der Tag vergeht wie im Flug. Was soll ich wegen Kai machen? Einerseits bringt mich seine Anwesenheit zur Weissglut, andererseits mache ich mir schon Sorgen wegen des Mordversuches. Ich glaube, ich werde ihn später anrufen, auch wenn sich etwas in mir dagegen sträubt. 20 Minuten später bin ich bereits auf dem Nachhauseweg.
Als ich an einer Gasse vorbeigehe, höre ich eine Stimme, weshalb ich ein Schritt zurück mache und in die Gasse schaue. Was für ein Wunder schon wieder Kai, doch den anderen Typ kenne ich nicht. Sie haben mich nicht gesehen, weshalb ich ihrem Gespräch zuhöre.
„Ist dir eigentlich bewusst, dass ich heute fast um das Leben kam!“
„Beruhige dich, ich konnte vor zwei Jahren auch nicht wissen, dass es so weit kommen würde.“
„Du sagst mir, ich soll mich beruhigen, nachdem einer deiner kriminellen Freunde versucht hat, mich umzubringen. Du hast mein Leben zerstört. Seit dem Tag, an dem du mich deinen Freunden vorgestellt hast, bin ich in eure kriminellen Geschäfte verwickelt. Das Schlimmste ist, dass ich nicht aussteigen kann. Ihr versucht mich sogar umzubringen, weil ihr Angst habt, ich könnte euch auffliegen lassen“.
„Ich weiss, wie du dich fühlst, denn ich mache das Ganze auch nicht freiwillig und ich bin schon daran, eine Lösung zu finden, doch so einfach ist das nicht.“
Versteckt lausche ich den beiden, bis eine Stille eintritt. Bis dahin habe ich zwar das meiste verstanden, doch ein wenig verwirrt bin ich trotzdem. Ich warte darauf, dass sie weitersprechen, doch es kommt nichts mehr. Vorsichtig schaue ich um die Ecke. Langsam gleiten die beiden an der Wand zu Boden und sitzen schweigend nebeneinander. Der Mann schaut sich immer wieder um und sieht auch auf sein Handy. Kai bemerkt es aber nicht.
Mir kommen die Stimmen von heute wieder in den Sinn. Wenn meine Annahme stimmt, kann ich herausfinden, was gerade abgeht. Mit voller Konzentration starre ich den Fremden an. „Die anderen werden jeden Moment ankommen und dann können wir ihn still und heimlich erledigen.“ Beinahe hätte mich dieser Mann gesehen, doch ich kann mich rechtzeitig abwenden. Es hatte geklappt!
Jetzt bleibt mir nicht mehr viel Zeit, da dieser Mann Kai hereinlegen will. Schnell rufe ich die Polizei an und schildere ihnen die Situation. Kurz darauf taucht die kriminelle Gruppe auf, genauso wie ich es gehört habe. Sie wollen Kai gerade loswerden, als die Polizei eintrifft. Nun geht alles blitzschnell. Alle Anwesenden werden in Gewahrsam genommen.
Ich muss nur einmal mit der Polizei mitgehen, um Fragen zu beantworten, danach habe ich nichts mehr mit der Sache zu tun und kann mich wieder in jeder Hinsicht auf mein Leben konzentrieren. Die Gruppe aus Kriminellen wird ins Gefängnis gesteckt, da die Polizei schon lange nach ihnen gesucht hat. Kai kommt ohne Strafe davon.
Kai hat sich mehrmals bei mir bedankt und auch ein Treffen vorgeschlagen, bei dem er mir die ganze Geschichte erzählen will. Doch ich weiss noch nicht, ob ich gehe. Das werde ich spontan entscheiden, denn eigentlich habe ich gerade nicht wirklich Lust, wieder mit ihm was zu tun zu haben. Andererseits glaube ich auch, dass jeder eine zweite Chance verdient. Na mal sehen, wofür ich mich entscheide. Ausserdem hat sich meine Vermutung bestätigt.
Ich habe keine Ahnung, warum und seit wann ich es kann. Doch mir ist es möglich, die Gedanken von Personen zu hören. Es ist so, als ob ich eine Pille mit Fähigkeiten geschluckt hätte. Irgendwie freue ich mich darauf, meine neue Fähigkeit auszuprobieren und näher kennenzulernen.
